Start ins Leben
Nach meinem Abitur mit 19 Jahren machte ich das erstbeste, was mir einfiel – ich studierte Physik, meinen Leistungskurs. Ich hatte allerdings noch überhaupt keine Vorstellung, was ich damit später machen wollte oder welchen Beruf ich dann wählen würde. Doch mein Leben war nicht nur von Theorien und Formeln geprägt. Ich wollte auch die neue Freiheit genießen, neue Dinge ausprobieren und aktiv sein. So lernte ich surfen, spielte Squash, ging segeln und entdeckte das Pen & Paper Rollenspiel für mich. Diese Aktivitäten brachten mir viele Kontakte und Begegnungen, doch trotz all dieser neuen Bekanntschaften blieb ein Gefühl der Distanz bestehen. Wer war ich und wieso wurde ich von den meisten maximal geduldet? Entweder als Sportwart im Surf-Klub, als Fotograf bei Regatten oder als Spielleiter im Rollenspiel.
Zwischen Oberflächlichkeit und innerer Leere
Ich hatte viele Kontakte, aber keine wirklich tiefen Freundschaften. Es war, als ob ich immer an der Oberfläche blieb, ohne wirklich in die Tiefe zu gehen. Ich war zwar Teil einer sozialen Welt, fühlte mich aber oft als Außenseiter, jemand, der dabei war, aber nicht wirklich dazugehörte. Diese Unauffälligkeit wurde zusätzlich durch mein Gewicht verstärkt – trotz meines aktiven Lebensstils brachte ich es mit 29 Jahren auf 125 kg. Mein Körper schien nicht mit meiner Energie und meinem inneren Selbst übereinzustimmen. Ich versuchte, mich durch Hobbys und Aktivitäten auszudrücken, aber innerlich wuchs das Gefühl, dass etwas nicht passte, dass ich nicht wirklich in meiner eigenen Haut lebte.
Während viele meiner Altersgenossen bereits mit Mitte zwanzig tief in ihrer Karriere und in festen Beziehungen verwurzelt waren, verlief mein Leben anders. Es war, als ob sich die großen Wendepunkte meines Lebens ständig verzögerten. Meine erste wirkliche Beziehung erlebte ich erst mit 28 Jahren, vorher schien ich für Frauen unsichtbar zu sein. Auch mein beruflicher Werdegang begann erst spät, weil ich mir doch etwas mehr Zeit beim Studieren gegönnt hatte. Doch auch hier setzte sich das Muster fort: Ich fühlte mich fachlich kompetent, doch sozial blieb ich am Rand, nicht wirklich integriert, nicht wirklich angekommen.
Späte Wendepunkte und neue Herausforderungen
Mit 42 Jahren kam schließlich das erste Kind – ein Moment, der mein Leben veränderte, aber auch wieder spät im Vergleich zu anderen Vätern. Die Verantwortung für eine Familie nahm mich in Anspruch, doch die Frage nach meinem eigenen Selbstausdruck drängte sich später doch wieder in den Vordergrund. Es dauerte weitere Jahre, bis ich den Mut fand, diesen Fragen wirklich nachzugehen. Nun, mit 60 wage ich schließlich den Schritt in die komplette Selbstständigkeit. Sicherlich mit immer noch vier Kindern zu Hause ein mutiger Schritt, den viele vielleicht als zu spät betrachten würden, für mich jedoch der richtige Moment.
Zerrissene Jeans und bunte Leggings
Schon seit einigen Jahren habe ich angefangen, meinen Stil zu hinterfragen und zu verändern. Was als eine Möglichkeit begann, mich neu zu erfinden, wurde anscheinen dann zu einem tiefen Bedürfnis, mein wahres Selbst auszudrücken. Zuerst eine zerrissene Jeans und bunte Leggings, die aus heutiger Sicht für einen lang unterdrückten Lebensgefühl standen. Warum sollte ich nicht Klamotten anziehen, die mir gefielen, auch wenn es die eher für Frauen gab. Anzüge und Krawatten waren einfach nicht mein Ding. Meine Eltern hatten mich da immer schon hineingedrängt und die erste Jeans habe ich mir dann selbst gekauft.
Doch mehr oder weniger reichte mir das nicht. Ich experimentierte weiter – Hotpants, wieso gibt es die eigentlich nur für Frauen. Kurze Hosen für Männer müssen bis zum Knie gehen. Wer legt das eigentlich fest? Also habe ich mir eine kurze Hose in der Damenabteilung gekauft.
Vielleicht finden später auch Röcke und Strumpfhosen den Weg in meinen Kleiderschrank. Wer legt eigentlich fest, welches Geschlecht Kleidung hat? Ich habe gemerkt, dass ich mich immer öfter fragte, wieso diese schönen Dinge nur für Frauen zu haben waren. Diese Kleidungsstücke wurden für mich zu Symbolen eines inneren Aufbruchs, eines neuen Mutes, den Menschen zu zeigen, wer ich wirklich bin.
Der Mut, gegen den Strom zu schwimmen
Doch dieser Weg wird nicht ganz einfach. Meine Kinder, die inzwischen älter sind, werden mich sicherlich mit kritischen Augen betrachten. Besonders die Jungs können sich mit dem Bild eines Mannes im Rock nur schwer anfreunden. Sie spiegeln mir die gesellschaftlichen Erwartungen wider, die auch noch in der jüngsten Generation tief verwurzelt ist. Ein Mann sollte männlich sein, so wie es die Norm vorschreibt – und ein Mann im Rock passt für sie nicht in dieses Bild.
Ich fand mich in einer emotionalen Zwickmühle wieder: Einerseits das Bedürfnis, mich selbst endlich zu finden und auszudrücken, andererseits die Erwartungen der Gesellschaft und meiner Familie. Doch ich begann zu verstehen, dass wahre Freiheit und Selbstausdruck nicht bedeuten, die Zustimmung aller zu bekommen. Es geht darum, sich selbst treu zu sein, auch wenn das bedeutet, gegen den Strom zu schwimmen.
Nun sind vielleicht Röcke für mich mehr als nur eine modische Entscheidung. Sie könnten zum Ausdruck meiner späten, aber kraftvollen Selbstfindung werden. Sie stehen für den Mut, mein wahres Ich zu leben, unabhängig davon, was andere denken. Mein Leben mag in vielerlei Hinsicht später verlaufen sein als das anderer, aber es hat mich gelehrt, dass es niemals zu spät ist, sich selbst neu zu entdecken und auszudrücken. Und genau das tue ich jetzt, auf eine Weise, die authentisch und wahrhaftig zu mir passt.